Die spinnen, die Pfahlbauer
Funde zur Textilherstellung aus der Pfahlbausiedlung Parkhaus Opéra in Zürich lassen den Archäologen Niels Bleicher über die Herkunft einiger alltäglicher Worte nachdenken.
Sprache ist für mich voll kollektiver unbewusster Erinnerungen. Das wurde mir kürzlich wieder einmal deutlich, als eine Kollegin meinte, sie habe einen riesigen Datensatz noch einmal komplett „durchgehechelt“. Man versteht zwar sofort, was sie meint, aber… Hand aufs Herz, wer weiß schon spontan, was „hecheln“ heißt? Das Wort kommt von Jahrtausende alten Handwerkstraditionen, die im Begriff sind, zu verschwinden. Was ich übrigens nicht bedaure.
Wenn man genau hinsieht, erkennt man in den Kulturschichten von Pfahlbaufundstellen wie Parkhaus Opéra in Zürich kleine Pflanzenstängel. Es sind die Stängelbruchstücke, die übrig bleiben, wenn man aus Flachspflanzen Fasern für Textilien gewinnt. Sie widerlegen hervorragend das Klischee der dummen, Bärenfell tragenden Vorzeitmenschen: Aus Flachs Leinentuch zu machen, ist nämlich gar nicht so einfach. Man muss die Pflanzen erst kontrolliert ein paar Wochen lang verrotten lassen. Bakterien zerlegen den Zellverbund so, dass die Fasern leichter zu gewinnen sind. Darauf muss man erst einmal kommen! Später kann man die Stängel trocknen, brechen und die Fasern reinigen.
Das Reinigen bedeutet konkret, dass man mit einer Art Kamm die halb verrotteten unerwünschten Reste des Flachsstängels aus den Fasern herauskämmt. Dieser Kamm heißt „Hechel“ und das Auskämmen ist das Hecheln. In den Pfahlbauten findet man manchmal eine solche Hechel aus zusammengebundenen angespitzten Rippen. Eigentlich ein schönes Bild für den mühsamen Prozess, aus großen Datenmengen den Müll auszusondern.
Das Textilhandwerk hat uns noch ein weiteres Wort hinterlassen, das man oft verwendet, ohne sich über seine Herkunft Gedanken zu machen: Um Garn aus den Fasern zu machen, benutzte man von der Steinzeit bis in jüngste Zeit Handspindeln, also ein Holzstäbchen mit einem Schwungrad aus Ton - den Spinnwirtel. Solche Spinnwirtel findet man regelmässig in Pfahlbauten des späten 4. Jahrtausends v. Chr. Ich habe versucht, einen Faden so herzustellen – nach reiflicher Überlegung habe ich allerdings beschlossen, mit dem Ergebnis nicht an die Öffentlichkeit zu treten.
Aber auch wer die Technik beherrscht, muss in mühevoller Arbeit viele Hundert Meter Garn spinnen, damit es für ein grosses Tuch reicht. Das dauert und ist sehr, sehr eintönig. Deswegen hat man das oft gemeinsam in kleinen Grüppchen gemacht und dabei geschwatzt. Offenbar hatte in diesen Sitzungen der Unterhaltungswert einer Geschichte größere Bedeutung als ihr Wahrheitsgehalt, denn nicht ohne Grund hat «spinnen» bis heute noch eine zweite Bedeutung, die genau von diesen Sitzungen herrührt, die in der Steinzeit wohl nicht viel anders abgelaufen sein dürften.
Heute werden beide Arbeiten – hecheln und spinnen – von Maschinen erledigt. Klar geht damit eine sehr lange Tradition zu Ende. Aber ehrlich: Wer das schade findet, spinnt!